Große Freude auf dem Freihof vor der Basilika St.Matthias, es wird gratuliert: die Großmutter hat soeben bei der Einzugsandacht für ihre 25. Fußwallfahrt das goldene Pilgerabzeichen erhalten, ihr Sohn bekam die Kerze, die zur 10.Wallfahrt gegeben wird, und ihr Enkel erhielt die Medaille für seine erste Wallfahrt. Ehrensache, dass Verwandte eigens zu diesem Anlass mit dem Auto nach Trier gekommen sind, um dieses außergewöhnliche Ereignis mit den Pilgern zu begehen.
Ein kleines Detail aus einer großen Bewegung, die Menschen aller Altersstufen jährlich nach St.Matthias führt. Eine quicklebendige Tradition – so stellt sich die Wallfahrt heute dar.
Seit mehr als 800 Jahren machen Pilgerinnen und Pilger den Weg zum Apostelheiligtum in Trier.
Die mittelalterliche Wallfahrtstradition ist erstaunlich lebendig. Seit dem 12.Jahrhundert gibt es die Wallfahrt zum Heiligen Matthias. Sie setzte ein, als man beim Bau der Kirche in einem Grab die Gebeine des Apostels zu finden glaubte. Auf die sich schnell verbreitende Nachricht hin begannen Pilger aus der Umgebung der Abtei St.Vitus im heutigen Mönchengladbach mit der Wallfahrt zum Heiligen Matthias. Aus kleinen Anfängen wuchs nach und nach eine weitverzweigte Bewegung. Bruderschaften entstanden, in denen sich Pilgerinnen und Pilger zu festen Gemeinschaften zusammenfanden. Bis auf den heutigen Tag entstehen solche Bruderschaften. Über die Jahrhunderte hinweg gab es immer wieder Männer und Frauen, die nach Zeiten des Stillstandes wieder für Bewegung sorgten und die alte Tradition mit neuem Leben füllten.
Seit dem Beginn der Matthiaswallfahrt haben sich die Mönche der Abtei um die Pilger gekümmert. Die Gottesdienste mit den Wallfahrern gehörten ebenso dazu wie deren Betreuung und Bewirtung. Nach der Aufhebung des Klosters in den Jahren zwischen 1803 und 1922 haben die Pfarrer der neu errichteten Pfarrei diese Aufgaben wahrgenommen. Als die Abtei 1922 wieder von Mönchen aus Seckau und Maria-Laach besiedelt wurde, war es für sie selbstverständlich, die Betreuung der Pilger als einen der spezifischen Dienste der Abtei zu gestalten. Einer der Brüder ist als Pilgerpfarrer mit dieser Aufgabe betraut. Dazu zählt zunächst der Kontakt mit den Gruppen, während sie in Trier sind.
Pilger gibt es in allen Altersgruppen – Pilger kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Es gibt Jugendwallfahrten, es gibt Schulwallfahrten, es gibt Familienwallfahrten (auch mit kleineren Kindern) und es bilden sich mittlerweile auch Seniorenwallfahrten. Vorherrschend aber ist das breite Feld der generationsübergreifenden Pilgergruppen. In ihnen finden Menschen trotz unterschiedlicher Herkunft und Lebensalters zusammen und spüren nach kurzer Zeit, was sie verbindet und welche Chancen sich auftun, wenn Menschen ihr Herz öffnen und den Austausch wagen. Die Unterschiede geraten in den Hintergrund und das „Du“ wird meist auch nach der Wallfahrt beibehalten.
In jedem Jahr machen sich an die 160 Gruppen von Wallfahrern auf den Weg zum Heiligen Matthias. So entsteht ein dichtes und tragendes Netz persönlicher Beziehungen. Man wartet schon voll Spannung auf den Start der Wallfahrt im nächsten Jahr. Die Pilger kommen zum überwiegenden Teil aus den Bistümern Aachen, Köln und Trier. Die meisten kommen aus der Umgebung von Mönchengladbach, Neuss und Krefeld. Andere stammen aus dem Raum Aachen, Jülich, Köln, Bonn und der Eifel. Pfarreien aus der näheren Umgebung von Trier kennen eine Tradition von Tages- oder Nachtwallfahrten. Viele Gruppen gehen den Weg hin und zurück. Die Wallfahrten dauern zwischen vier und neun Tage. Da kommen leicht bis zu 300 Km und mehr zusammen. Jede Wallfahrt hat ihr eigenes Gesicht und ihre eigene Tradition. Das gilt nicht nur für die Bruderschaften, die seit Jahrhunderten den Weg nach Trier gehen. Die nicht unerheblichen logistischen Probleme (Unterbringung unterwegs und in Trier, Beköstigung etc) werden von regelrechten Experten aus den eigenen Reihen bearbeitet.
Das Interesse an der Pilgerbewegung ist - so zeigen es allein schon die Zahlen - weiterhin sehr lebendig. Immer mehr Menschen aller Generationen finden darin einen angemessenen Ausdruck ihres Glaubens. Im Gehen miteinander wollen sie ihren eigenen Lebensweg als Glaubensweg erfahren.
Viele Pilger berichten davon, dass das gemeinsame Unterwegssein mit Gleichgesinnten für sie ein Erlebnis von Glaubensgemeinschaft ist, das sie nicht missen möchten. Im normalen Alltag wird von gläubiger Weggemeinschaft, von Austausch und Mitteilen wenig spürbar.
Auf einer Wallfahrt aber kommen viele Erfahrensbereiche zusammen. Die Anstrengung, die Mühe und Freude, das gemeinsame Essen, Erholung und Ruhe, Beten und Schweigen verbinden sich in einer Weise miteinander, die zu einem sehr fruchtbaren Austausch im Glauben führt. All das trägt dazu bei, dass die tieferen Schichten des inneren Menschen für die Begegnung im Glauben geöffnet werden.
In der Erzählung von den Emmaus-Jüngern im Lukasevangelium wird diese Erfahrung angesprochen. Die Elemente dieser Erzählung sind ein kleiner Schlüssel zum Verständnis des Pilgerns. Zunächst einmal müssen sich Menschen auf den Weg machen. Das öffnet sie und schafft Bereitschaft für den Austausch dessen, was sie im Inneren bewegt. Langsam tasten sie sich aneinander heran und auch das kann zur Sprache kommen, was ihr Leben schwer macht. Sich aussprechen und aushalten können wird zu einer Voraussetzung für neue Sicht- und Verständnisweisen des Lebens.
In der biblischen Erzählung wird eindrucksvoll geschildert, wie Jesus verborgen mitgeht und den beiden Wanderern eine unerwartet neue Sicht ihres Lebens anbietet. Erst durch diese 'erwanderte' Vorbereitung sind sie offen für den Erweis seiner Gegenwart, die sie im gemeinsamen Mahl erleben. Miteinander gehen, so sagt die Bibel, wird zu einer unverzichtbaren Voraussetzung für die neue Erfahrung, die von Gott geschenkt wird. Glaube wächst auf dem Weg. Auf einem mehrtägigen Pilgerweg kann das Gespür dafür neu bewusst werden.
In der Emmaus-Geschichte wird ein Thema ausgeführt, das überall im Alten und Neuen Testament anzutreffen ist: GLAUBE ALS WEG.
Glauben, so bezeugt die Bibel, kann als schrittweises Hineinwachsen in die Sicht des eigenen Lebens als eines Weges mit Gott verstanden werden. Davon spricht die große Erzählung von Abraham, jenem ersten Glaubenden, der sich auf den langen Weg in ein unbekanntes Land machen muss.
Davon erzählt auch die Geschichte des pilgernden Gottesvolkes, das durch 40 Jahre hindurch einen mühevollen Weg in das verheißene Land machen musste. Immer wieder sprechen auch die Propheten dieses Motiv an und sie verkünden den Gott, der auf den Menschen wartet, der umkehrt und sich ihm zuwendet.
Der Glaube umgreift auch den Umweg und die Verirrung; und er ist Ein-ladung zu neuen Schritten. Der Weg des Lebens ist dabei ein Lernweg, auf dem die immer gesprochene Einladung, von Neuem zu beginnen, gehört werden kann. Diese Sicht von Glauben bewahrt vor der weitverbreiteten Ansicht, beim Glauben gehe es um eine verstandesmäßige Bewältigung von Lehrsätzen. Die vielgestaltige Kommunikation auf einer Wallfahrt hilft mit, den eigenen Lebenssinn zu erspüren.
Menschen können tiefer zu sich selbst und zueinander finden. Die Verkrustungen des Alltags werden aufgebrochen. Oft wird erst im Nachhinein deutlich, was sich im Inneren ereignet hat. Man könnte von einer „Wallfahrt nach der Wallfahrt“ sprechen. Die Erlebnisse, die Gespräche, die neuen Erfahrungen all das wirkt nach und beschäftigt die Pilger noch lange.
So kann die Erfahrung des Pilgerns verändernd und ermutigend in den Alltag hineinwirken. Die gemeinsamen Tage, die Bewältigung der Anforderungen, das Aushalten der Strapazen, das Erlebnis der Freude und die Wahrnehmung der inneren Bewegungen machen die Verbindung von Leben und Glauben neu spürbar. Die oft beklagte Kopflastigkeit hat hier keine Chance. Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Leiblichkeit verhelfen zu tieferem Hinhören. Die Worte der biblischen Botschaft und das gemeinsame Beten erreichen den ganzen Menschen. So kann der Pilgerweg zu einer heilsamen Kontrasterfahrung werden. Eine Wallfahrt kann Menschen helfen, ihren Lebensweg als Glaubensweg deuten zu können. Die auf dem gemeinsamen Weg entstehenden Beziehungen erweisen sich auch das Jahr über als Lebens- und Glaubenshilfe. So wird die Wallfahrt nicht zu einem isolierten Sonderfall im Glaubensleben.
Wallfahrten sind Gemeinschaftserfahrungen. Sie führen Menschen zusammen und helfen, Isolierungen zu überwinden. Gemeinsames Suchen und gemeinsames Erleben werden zur Stütze für alle. Gerade heute erleben Menschen oft schmerzhaft, wie selten der Glaube gemeinsam erlebt werden kann. Das Zusammensein über mehrere Tage erschließt hier neue Erfahrungen, die in den alltäglichen Glauben einwirken. Nicht nur die geschichtlich gewachsenen Bruderschaften, sondern auch die neu entstandenen Gruppen, zeigen starke Zusammengehörigkeit. Gruppen dieser Art bieten eine lebendige Erfahrung von Kirche und sind ein Lebensraum, der auch starken Belastungen standhält.
Von daher ist es fast selbstverständlich, dass diese Gruppen in ihrem heimatlichen Umfeld als mittragende Kräfte wirken, sei es in den Pfarrgemeinden oder anderen kirchlichen Diensten. Manchmal ist es die Gruppe als Ganze, anderswo sind es Einzelne, die ihre Erfahrung in den Dienst der anderen stellen. Auch dadurch wird sichtbar, dass Wallfahrt Ausdruck von Kirchesein ist, und keineswegs nur auf die fromme Erbauung des Einzelnen ausgerichtet ist.
Stand früher deutlicher die Verehrung des Apostels im Vordergrund, so treten derzeit noch eine Reihe anderer Beweggründe hinzu. Ganz unterschiedlich sind die Motive der Einzelnen: Dankbarkeit oder ein wichtiges Anliegen führen Menschen auf diesen Weg. Immer deutlicher prägt der Dienst der Fürbitte die Gebete der Wallfahrt. Und alles verbindet sich zur Anerkennung und zum Lob Gottes. Für die meisten Pilger bedeuten die Tage der Wallfahrt: Zeit zum Innehalten, Zeit des Gebetes, Zeit der Gottesbegegnung. Der ganze Weg wird wie ein 'Zuhause“. Der gemeinsame Einzug unter dem Geläut der Glocken in die Basilika, einem Zwischenziel auf dem langen Pilgerweg des Lebens, ist jedesmal ergreifend.
Die Gestalt des Apostels Matthias wird zu einem Beispiel für Menschen, die 'dabei sein' möchten. In der kurzen Notiz der Apostelgeschichte wird als Voraussetzung für die Wahl des Matthias angegeben, dass er 'von Anfang an dabei war, als Jesus bei uns ein und aus ging'. Eine Wallfahrt lässt die Pilger 'dabei sein', und sie spüren, was es heißt,“ Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Weg und Ziel verschmelzen und werden zu einem Zeichen der Nachfolge.
Großmutter, Sohn und Enkel schämen sich ihrer (Freuden)tränen nicht. So ist das, wenn Pilger nach langem Weg in die Basilika einziehen. Die Glocken läuten ihnen entgegen. Sie ziehen durch das offene Portal und spätestens, wenn die Orgel das „Großer Gott, wir loben dich“ anstimmt, kann der Kopf nichts mehr steuern, das Herz übernimmt die Regie. Alle spüren: Wir sind willkommen.
Nun sind alle wieder daheim. Die arg strapazierten Füße beten noch einige Tage weiter. Trotz aller Beschwerden wächst langsam die Vorfreude auf die nächste Wallfahrt.